Stand: 05.09.2022 22:18 Uhr
Trotz gegenteiliger Empfehlung der Netzbetreiber werden die Kernkraftwerke zunächst zum Jahresende vom Netz genommen. Einige Grüne hätten den Streckvorgang akzeptiert – die Debatte darüber sollte also weitergehen. Von Hans-Joachim Vieweger, ARD-Hauptstadtstudio
Die Stromversorgung kann im Winter unter bestimmten Bedingungen an ihre Grenzen stoßen. Das zeigt der neue Stresstest der Stromnetzbetreiber. Daher empfehlen die Unternehmen, die drei verbleibenden Kernkraftwerke weiter zu betreiben. Doch das geht Bundesfinanzminister Robert Habeck zu weit – zumindest vorerst. BR-Logo Hans-Joachim Vieweger ARD-Hauptstadtstudio Es ist eine Pressekonferenz, bei der zwei Welten aufeinanderprallen. Auf der einen Seite die Stromnetzbetreiber, die im Auftrag der Politik ausgerechnet haben, ob es im Winter genug Strom geben wird. Also, ob der Strombedarf jederzeit gedeckt werden kann und ob die Netze das Gleichgewicht zwischen Stromlieferanten und Stromverbrauchern sicherstellen können. Die düstere Botschaft: Die Versorgungslage in Deutschland und ganz Europa könne im Winter „extrem angespannt“ sein und Verbraucher könnten in Extremsituationen sogar „zum befristeten Abschalten aufgefordert“ werden. Alarmanruf.
Ergebnisse des Stresstests der deutschen Stromversorgung: Wie geht es weiter mit den Kernkraftwerken?
Daniel Pokraka, ARD Berlin, Tagesthemen 23:00 Uhr, 5. September 2022
Maßnahmenpaket
So weit muss es natürlich nicht kommen, schließlich werden hier Szenarien erwartet: Mit einem besonders kalten Winter. Hoher Gaspreis. Probleme mit anderen Energiequellen. Fälle, die zu Beginn des Stresstests Mitte Juli als extrem galten, haben sich nun aber als reale Möglichkeit herausgestellt.
Die Betreiber des Stromnetzes empfehlen in diesem Zusammenhang ein ganzes Maßnahmenpaket, um die Versorgungssicherheit im Winter zu gewährleisten: Es ist logisch und notwendig, alle Möglichkeiten zur Stromerzeugung zu nutzen – und damit alle drei verbleibenden Kernkraftwerke Emsland, Isar 2 und Neckarwestheim 2. Ihr Weiterbetrieb könne dafür sorgen, dass „Lastsubventionen weitgehend vermieden werden können“ und das Netz auch etwas stabiler werde.
Die Grünen hätten den Streckvorgang vermutlich akzeptiert
Das Ergebnis dieses Stresstests könnte für Habeck die goldene Brücke sein, die Atomkraftwerke noch einige Monate länger laufen zu lassen, mit dem sogenannten verlängerten Betrieb, der einigen führenden Grünen-Politikern neuerdings zu gefallen scheint. Doch so weit geht der Finanzminister doch nicht – er hat sich am Nachmittag mit Parteifreunden beraten.
Sein Vorschlag: Das Emsland soll wie geplant zum Jahresende abgeschaltet, Isar 2 und Neckarwestheim 2 für einige Monate Ersatzkraftwerke werden. Sie wurde abgeschaltet, um in einer Not- und Übergangszeit bis April 2023 möglicherweise noch verfügbar zu sein. Für den Finanzminister war es laut Finanzminister ein Balanceakt: Atomkraft sei schließlich eine Hochrisikotechnologie. Und was die Entwicklung auf dem Energiemarkt betrifft: Im Dezember werde mehr bekannt sein, sagt Habeck, der gleichzeitig einräumt, dass Entscheidungen umso schwieriger seien, je langsamer sie getroffen würden.
Atomkraft bleibt eine Option
Für die aktuelle Lage des Strommarktes ist die Habeck-Entscheidung daher grundsätzlich keine Entscheidung. Die Frage der kurzfristigen Weiternutzung der Kernenergie bleibt in einer Sackgasse. Vielleicht ganz bewusst angesichts der hitzigen Atomdebatten im Vorfeld der niedersächsischen Wahlen – also dort, wo die Grünen stark mit der Anti-Atom-Bewegung verbunden sind. Die FDP spricht bereits von einem „politischen Notausstieg“.
Auch nach der Vorstellung des Stresstests deutet sich an, dass die Diskussionen über eine begrenzte Wiederaufnahme der Kernkraftwerke weitergehen werden. Es sei „eine Frage der Vernunft, jetzt jede klimaneutrale Kilowattstunde zu aktivieren“, twitterte FDP-Fraktionsvorsitzender Johannes Vogel. Dem liberalen Koalitionspartner sorgen nicht nur Klimaschutz und Versorgungssicherheit, sondern auch der Strompreis, der zuletzt schwindelerregende Höhen erreicht hat. Je mehr Anbieter auf dem Markt, desto niedriger der Preis, so die Hoffnung.