KOSMO: Seit vielen Jahren warnen Ihre Länder Deutschland vor einer Änderung seiner Sicherheits- und Energiepolitik. Aber niemand hat dich gehört. Hat Deutschland dich jetzt erwischt? Täuschen Sie sich nicht über Putins Absichten (von links): Kaja Kallas, Krisjanis Karins und Ingrida Simonyte Quelle: Amin Akhtar Ingrida Simonyte: Ja, das hat sie. Wir haben unseren deutschen Freunden immer geraten, Moskau nicht zu sehr zu vertrauen. In den Beziehungen zu Russland geht es nie nur um wirtschaftliche Fragen, sondern immer auch um geopolitische. Deutschland und seine Wirtschaft spüren das jetzt ganz konkret. Das wissen wir schon lange. Krisjanis Karins: Wir haben in unseren Ländern nie daran geglaubt, dass die deutsche Idee „Wandel durch Handel“ funktionieren könnte. Vielleicht haben wir im Stillen gehofft, dass die Idee erfolgreich sein würde. Leider hatten wir am Ende recht, auch wenn wir nicht glücklich darüber sind. KOSMO: Wenn Deutschland es herausgefunden hat, warum fordern dann deutsche Politiker wie der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer, den Krieg einzufrieren und mit Russland zu verhandeln? Karins: Ich halte solche Ideen für äußerst problematisch, absolut gefährlich für uns baltische Staaten. Wir wollen, dass der Krieg endet. Das funktioniert aber nur, wenn Putin verliert. Wenn er auch nur einen Bruchteil von dem bekommt, was er will, betrachtet er das als Sieg und wird weitermachen. Lesen Sie auch Kaja Kallas: Es war falsch, Russland für seine Aggression in Georgien und der Ukraine nicht zu bestrafen. Jetzt dürfen wir nicht wieder weich werden. Die einzige Lösung besteht darin, Russland an seine Grenzen zurückzudrängen. Damit Putin nichts zu verlieren, aber auch nichts zu gewinnen hat. Alles andere bedeutet, dass sich seine Aggression ausgezahlt hat. Das wäre eine Einladung und kein Staat könnte sich mehr sicher fühlen. Deshalb müssen wir der Ukraine helfen, sich zu verteidigen. Kaja Kalla Quelle: Amin Akhtar KOSMOS: Ihr Land, Frau Kallas, hilft der Ukraine besonders intensiv und liefert pro Einwohner die meisten Waffen. Damit hat Deutschland seit Monaten zu kämpfen. Sollte Berlin mehr tun? Callas: Ich denke, wir alle müssen mehr tun. KOSMOS: Aber Deutschland war in den vergangenen Monaten sehr zurückhaltend bei Waffenlieferungen. Callas: Wir sind 27 Demokratien in der EU, kleinere Schiffe können schneller den Kurs ändern als größere. Deutschland ist ein sehr großes Schiff. Es ist wichtig, dass Entscheidungen so schnell wie möglich getroffen und umgesetzt werden. Lesen Sie auch Simonyte: Es wäre nicht fair, nur Deutschland auszuwählen. Es gab viele andere große Länder, die sich lange geweigert hatten, Waffen zu liefern. KOSMOS: Denken Sie an Frankreich? Simonyte: Wir werden nicht mit dem Finger auf Länder zeigen. Ich würde es umgekehrt sagen: Es war eine eher kleine Gruppe von Ländern, die es gewagt haben, sehr früh Waffen nach Kiew zu liefern. Noch vor der russischen Invasion. Karins: Außerdem hat Deutschland sehr schnell gehandelt. Bundeskanzler Olaf Solz sagte in seiner “Zeitenwende”-Rede vor dem Bundestag, dass ich mich nicht mehr an das genaue Datum erinnere… Krisjanis Karins Quelle: Amin Akhtar Anruf: … am 27. Februar… Karins: Ja genau, danke. So kündigte der Bundeskanzler drei Tage nach dem Einmarsch in die Ukraine an, die Bundeswehr aufzurüsten und Waffen an die Ukraine zu liefern. Deutschland ist ein Land mit 70-jähriger pazifistischer Tradition. Das ist ein revolutionäres Umdenken. KOSMOS: Oder nur in der Rhetorik… Karins: Auch in Aktion. Es wurde sehr schnell entschieden, der Bundeswehr 100 Milliarden Euro zur Verfügung zu stellen und Waffen direkt in die Ukraine zu liefern. Lesen Sie auch KOSMOS: Was seitdem sehr schwierig war… Simonyte: Nun, es gab diese philosophischen Diskussionen darüber, ob man sich leichte oder schwere Waffen beschafft. Doch allmählich änderte sich dies. Wir haben zwanzig Jahre lang Angst vor einem solchen Krieg. Es war einfacher für uns, schnell zu handeln. Diejenigen Länder, die sich lange Illusionen über Russland gemacht haben, mussten zuerst aufwachen. Callas: Für viele war es ein sehr plötzliches Erwachen. Ich erinnere mich, als wir am 24. Februar gleich zum EU-Krisengipfel zusammenkamen. Dies war ein echter Schock für einige der Führer der großen Länder. Sie konnten nicht glauben, dass so etwas im Jahr 2022 passieren könnte. KOSMOS: Ein Aufbruch, der nun auch dazu geführt hat, dass Deutschland vor wenigen Tagen einen neuen Nato-Einsatz in Ihrem Land, Frau Simonyte, in Litauen durchgeführt hat. Reicht? Simonyte: Wir sollten hier nicht nur auf Litauen oder Deutschland schauen. Die gesamte Ostseite von Nord nach Süd muss besser geschützt werden. Das haben wir beim Nato-Gipfel in Madrid beschlossen – und wir setzen es schrittweise um. Die neuen deutschen Soldaten in Litauen sind Teil dieser Strategie. Lesen Sie auch Kallas: Ja, man muss das große Ganze sehen. Bundeskanzler Scholz sagte in seiner jüngsten Rede in Prag, dass die zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts, die das Land künftig jährlich für die Verteidigung ausgeben will, auch in den Aufbau einer Luftverteidigung fließen werden. Deutschlands Luftverteidigung gegen Russland beginnt jedoch im Baltikum. Ich denke, das ist eine grundlegend neue Einstellung. Wir sprechen nicht mehr über einzelne Länder, sondern über die gesamte Region und handeln gemeinsam. Karins: Früher waren sich nicht alle einig, wenn es eine Bedrohung gab. Wir sagten ja, andere sagten nein. Wir hatten oft das Gefühl, dass unsere Argumente nicht gehört wurden. Das hat sich komplett geändert. Die Atmosphäre am EU-Tisch, am Nato-Tisch ist eine ganz andere. KOSMOS: Sie sagen, Ihre Argumente würden jetzt gehört. Gilt dies auch für den von Ihnen beantragten Visumstopp für russische Staatsbürger? Es gibt dazu keinen Beschluss auf EU-Ebene, Deutschland beispielsweise ist dagegen. Karins: Es dauert nur eine Weile. Am 24. Februar trafen wir uns im Rat, Selenskyj war verbunden. Er wusste nicht einmal, ob er am nächsten Tag noch leben würde. Viele in Brüssel dachten, Kiew würde in zwei oder drei Tagen fallen. Am Abend haben wir besprochen, wie wir reagieren können. Allen war klar, dass Sanktionen notwendig waren. Aber wir konnten uns nicht einmal darauf einigen, Putin und Lawrow auf eine Sanktionsliste zu setzen. Drei Tage später sprach Olaf Solz von einer „Wende“ und vieles sei möglich geworden. Seitdem hat sich viel verändert. Lesen Sie auch Callas: Es braucht Zeit. Wir sind oft die ersten, die etwas vorschlagen, andere folgen unserem Beispiel. Das Wichtigste ist unsere europäische Einheit, die es zu bewahren gilt. Aus diesem Grund werden einige Entscheidungen nicht sofort getroffen. Simonyte: Als wir vereinbarten, den europäischen Luftraum für russische Flugzeuge zu sperren, wussten nur wenige, dass die Russen nun immer mehr über unsere Grenzen kommen würden. Die Bürger unserer Länder fragen sich, warum sie all diese Russen hier im Urlaub und beim Einkaufen sehen, während gleichzeitig die Russen Menschen in der Ukraine töten. Ingrida Simonyte Quelle: Amin Akhtar Kallas: Und die ukrainischen Flüchtlinge… Simonyte: … die zum Beispiel in einem Hotel arbeiten und Schreckliches von russischen Gästen hören müssen. Das ist nicht richtig. Wir wissen, dass auch Menschen in Weißrussland und Russland verfolgt werden. Sie können zu uns kommen. Wir wissen, wer Schutz braucht und wer nicht. KOSMOS: Frau Kallas, Russland hat gerade den Erdgastransport durch Nord Stream 1 komplett eingestellt… Callas: Überraschung, Überraschung… Lesen Sie auch KOSMOS: Deutsche Politiker haben die Eröffnung von Nord Stream 2 vorgeschlagen. Was halten Sie davon? Callas: Muss ich das ernsthaft beantworten? KOSMOS: In Deutschland gibt es eine solche Debatte. Kallas: Okay. Die Pipelines waren nie nur ein Wirtschaftsprojekt, sondern ein geopolitisches Instrument Russlands. Russland will, dass die Sanktionen aufgehoben werden, damit es seinen Angriffskrieg ungestört fortsetzen kann. Als es im Frühjahr hieß, die EU könne Gasimporte nicht beenden, weil dies der deutschen Wirtschaft besonders schaden würde, hörte Moskau aufmerksam zu. Russland weiß, dass Deutschland verwundbar ist. Daran würde auch die Eröffnung von Nord Stream 2 nichts ändern. Deutschland würde sich nach Russland zurückziehen. Das wäre für uns alle gefährlich. Kaja Kallas, Krisjanis Karins und Ingrida Simonyte im Gespräch mit Klaus Geiger und Philipp Fritz (von links) Quelle: Amin Akhtar Simonyte: Glaubt irgendjemand, dass es technische Probleme mit Nord Stream 1 gibt? Hinzu kommt die Jamal-Pipeline, die über Land verläuft und von Russland genutzt werden könnte. Ich verstehe diese Diskussion nicht. Kallas: Gleichzeitig verbrennt Russland Erdgas nahe der finnischen Grenze. Karins: Wir Balten haben uns schon gegen den Bau von Nord Stream 1 ausgesprochen, wir haben Deutschland darauf hingewiesen, wie gefährlich es ist, so sehr auf einen…